„Das haben wir schon immer so gemacht“
Hinter dem Erfolg eines Unternehmens stehen die Menschen, die dort arbeiten. Die Sicherheit und Gesundheit unserer Mitarbeitenden zu schützen hat bei thyssenkrupp lange Tradition. Wie wichtig es dabei ist, auch altbewährte Methoden immer wieder zu hinterfragen? Davon berichtet uns Robin Kauß, Industriemechaniker bei thyssenkrupp Steel in Duisburg. 2018 verlor er bei einem Arbeitsunfall sein rechtes Bein.
Wer Robin Kauß auf der Straße trifft, würde nicht vermuten, dass der junge Mann mit dem freundlichen Gesicht und zügigem Gang lediglich ein gesundes Bein hat. 2018 wurde sein Leben durch einen Arbeitsunfall für immer verändert.
Ein ganz normaler Arbeitstag
Der 17. Februar 2018 ist ein sonniger, kalter Samstag. Robin Kauß hat Mittagsschicht bei thyssenkrupp Steel in Duisburg. Von seinem Heimatort Herne ist er mit Bus und Bahn fast eineinhalb Stunden bis zum Werk unterwegs. Für ihn reine Routine. In der Bahn kann er lesen oder den nächsten Urlaub mit seiner Freundin planen. Im Jahr zuvor waren sie zusammen in Florida. Im Sommer soll es nochmal in die USA gehen, diesmal nach Las Vegas.
„Es war eine ganz normale Schicht“, erinnert er sich. Robins Arbeitsplatz ist an der Probenschere. Dort werden Stücke aus den Blechen für die Qualitätsprüfung geschnitten. Um kurz nach vier erfährt er von einem Kollegen, dass sie heute „die Messer bauen“ müssen. Eine Routinearbeit, die in Robins Arbeitsbereich zigmal im Monat gemacht wird – meistens zu zweit. Jeder kennt den Ablauf. Auch Robin weiß, was zu tun ist. Er ist schließlich kein Anfänger mehr. Seine Ausbildung hat er 2014 abgeschlossen.
Bisher ist nie etwas passiert
„Messer bauen“ sieht folgendermaßen aus: In einem Block befinden sich zwei Messer, dazwischen ist ein Keil. Zuerst kommt das Untermesser heraus, dann der Messerkeil, der die Messerbreite reguliert. Der Messerkeil ist knapp vier Meter lang und wiegt rund 630 Kilo. Er wird mit dem Kran herausgenommen und auf die Stahlwände am Treppenaufgang gestellt. Dort ist er auf einer guten Arbeitshöhe. Als Robin zum ersten Mal beim Messerbauen dabei war, wunderte er sich: „Warum macht ihr das so?“ Die Antwort der älteren Kolleg:innen damals: „So haben wir es schon immer gemacht.“ Also macht Robin es genauso. Auch an diesem Samstag.
630 Kilo Stahl im freien Fall
Am 17. Februar 2018 ist Robin Kauß allein mit dem Messerkeil. Das Werk ist heute unterbesetzt. Er ist konzentriert und prüft, ob der Messerkeil sicher steht, bevor er ihn aus dem Kran aushängt. Dann gibt er seinem Kollegen das Zeichen, den Kran wegzufahren. In diesem Moment bewegt sich der Stahlkeil. Bis heute kann niemand genau sagen, warum. Aus einer Höhe von 1,20 Meter fällt der Messerkeil. Robin schafft es nicht mehr, das rechte Bein rechtzeitig wegzuziehen. Sein Vorderfuß gerät unter 630 Kilo Stahl.
„Im ersten Moment war es ein sehr starker Schmerz. Dann hat es sich eher so angefühlt, wie wenn man den Fuß in heißes Wasser taucht und nicht herausnimmt, wie ein Brennen“, erinnert er sich. Robin ist bei vollem Bewusstsein. Er gibt seinem Kollegen die Anweisung, ihm das Handy aus dem Rucksack zu bringen. Robin kennt den Ablauf: Rettung holen, Angehörige verständigen. Er ist seit mehr als zehn Jahren bei der Freiwilligen Feuerwehr Herne aktiv.
Sofort wird der Rettungsdienst alarmiert. „Wir dachten erst, es sei ein Bruch“, erzählt Schichtkoordinator Steinhoff. Der Notarzt landet nach wenigen Minuten mit dem Hubschrauber. Robin wird auf schnellstem Weg ins Klinikum gebracht. Im OP stellen die Ärzte fest, dass sein Vorderfuß nicht mehr zu retten ist. Er wird sofort abgenommen. Robin Kauß verliert seinen rechten Fuß.
Schockreaktionen
Am Samstagabend wacht Robin im Krankenhaus auf. Zu dem Zeitpunkt weiß Robins Mutter noch nicht, wie schwer seine Verletzung ist. Als sie vom Unfall erfährt, kann ihr niemand sagen, in welcher Klinik ihr Sohn ist. Rettungsdienst und Notarzt entscheiden erst auf dem Weg, welches Krankenhaus geeignet ist, und unterliegen dabei der Schweigepflicht – auch gegenüber dem Arbeitgeber. Weder das Unternehmen noch die Leitstelle können Robins Mutter deshalb Auskunft geben.
Sie ist die ganze Nacht wach und ruft Robins ältere Schwestern zu sich. Am Sonntagmorgen telefonieren sie alle Kliniken in Duisburg ab. Endlich haben sie die richtige Adresse und machen sich auf den Weg zum BG-Klinikum. Beide glauben, Robin hätte sich den Fuß gebrochen. Als seine Mutter vor dem Bett steht, sagt Robin ihr direkt, was wirklich los ist: „Mir fehlt der halbe Fuß.“ Sie ist fassungslos. Es dauert noch einen ganzen Tag, bis sie das Ausmaß des schweren Unfalls begreift.
Zwei Monate im Krankenhaus
Robin Kauß muss bis Ende April im Krankenhaus bleiben und bekommt starke Schmerzmittel. Seine Zimmernachbarn wechseln oft. Insgesamt lernt er 25 Patient:innen kennen. Viele hat es noch schlimmer getroffen als ihn. Vier Wochen nach dem Unfall stellen ihn die Ärzt:innen vor die Wahl: Die Ferse könnte mit Haut- und Muskelgewebe aus dem Oberschenkel neu aufgebaut werden, mit dem Risiko das gesamte rechte Bein in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Alternative: Eine volle Amputation, anschließend eine Prothese. Robin entscheidet sich für die Amputation. Mit der Prothese, so denkt er, ist die Chance höher, dass er sein Bein später wieder voll belasten kann. Er hat Glück, seine Hoffnung erfüllt sich. Doch es wird noch lange dauern, bis es so weit ist. Erst wenn das Gewebe am Stumpf gut verheilt ist, kann eine Prothese angepasst werden. Nach acht Wochen darf Robin Kauß endlich die Klinik verlassen. Es ist sehr heiß, schon im Mai und Juni des Rekordsommers 2018 sind es über 35 Grad. Robin kann sich nur im Rollstuhl und auf Gehstützen bewegen. Er liest viel, verbringt viel Zeit an der Konsole. Auf eine psychologische Betreuung verzichtet er. „Ich weine nichts nach, was sich nicht ändern lässt“, sagt er.
Reha und Wiedereingliederung
Es gibt Tage zu Hause, an denen die Zeit sehr langsam vergeht. Erst eineinhalb Monate nach seiner Entlassung beginnt die Reha. Eine Prothese wird angepasst und Robin muss Tag für Tag lernen, sich damit zu bewegen. Anfangs kann er die Prothese nur zwei bis drei Stunden tragen. Ohne Hilfe kann er nicht rausgehen. Die Reha ist anstrengend, auch wegen der Hitze, und sie dauert drei Monate. Fast jeden Tag kommt seine Freundin zu Besuch. Sie hat keine Probleme mehr damit, den Beinstumpf zu sehen. Es dauert noch Wochen, bis Robin die Prothese den ganzen Tag lang tragen kann. In dieser Zeit nimmt er fast 30 Kilo ab.
Die Entscheidung für die Prothese hat er nie bereut. Ein knappes Jahr nach dem Unfall, im Februar 2019, beginnt Robin Kauß mit der Wiedereingliederung. Er braucht eine Spezialanfertigung der Arbeitshose und der Arbeitsschuhe. Wegen der langen Anfahrt beginnt Robin direkt mit vier Stunden Arbeit am Tag. Es dauert keine acht Wochen, bis er wieder normale acht Stunden im Schichtwechsel arbeitet. Aber er kehrt nicht an seinen früheren Arbeitsplatz zurück. Inzwischen arbeitet er an der Ultraschallanlage. Dort werden in der Qualitätsprüfung die Dicken des Stahls gemessen. An der Unfallstelle kommt er trotzdem oft vorbei. Flashbacks, also jene Momente, in denen plötzlich die Unfallsituation wieder erlebt wird und Panik entsteht, kennt Robin nicht. „Nein, damit habe ich kein Problem“, versichert er. Wenn ihm jetzt etwas gefährlich vorkommt? „Dann sorge ich dafür, dass es nicht so gefährlich ist!“
Zukunft mit Prothese
Wie früher kommt Robin Kauß auch heute wieder mit Bus und Bahn zur Arbeit. Für den Fußweg zum Bahnhof braucht er jetzt ein paar Minuten länger. Im Winter, wenn es glatt ist, ist er sehr vorsichtig. Schnell laufen oder gar rennen kann er mit der Prothese nicht. Dafür müsste eine eigene Sportprothese angefertigt werden. Bei der freiwilligen Feuerwehr kann er zu aktiven Einsätzen nicht mehr mit den Kameraden ausrücken. Jetzt ist er das erste Mitglied im sogenannten Versorgungstrupp. Er bleibt im Gerätehaus und kümmert sich darum, dass nach dem Einsatz Essen und Getränke bereitstehen. Wenn alles gut geht, will Robin Kauß bald auch den Führerschein machen. „Das geht, auf Automatik und mit Linksgas“, weiß er. Auch Flugreisen sind mit der Prothese kein Problem. Den Urlaub nach Las Vegas will er mit seiner Freundin nachholen.
Konsequenzen für die Arbeitssicherheit
Nach Robins Unfall wurde bei thyssenkrupp Steel intensiv untersucht, wie es dazu kommen konnte. Die Abläufe beim Messerbauen wurden seitdem komplett geändert. Es wurde eine Arbeitsanweisung geschrieben und eigens eine Vorrichtung angefertigt und installiert, auf der der Messerkeil abgestellt werden kann. Sie stellt sicher, dass der Messerkeil nicht mehr kippen und sich ein Unfall, wie ihn Robin Kauß erlitten hat, nicht wiederholen kann.
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