Sicherheitskultur klappt nicht ohne Konzept
24.03.2020
Die Corona-Pandemie beherrscht die Nachrichten. Nicht nur in dieser herausfordernden Zeit ist eine entwickelte Sicherheitskultur enorm wichtig. Bei thyssenkrupp steht diese an erster Stelle. Im Gespräch erläutern Dr. David Maus, Program Director, und Dr. Jörg Arnold, Head of Occupational Safety, warum Regeln und Prozesse nur der erste Schritt sind, um eine überzeugende Sicherheitskultur bei thyssenkrupp weiter zu etablieren.
Mal grundsätzlich: Warum beschäftigen sich Unternehmen mit Arbeitssicherheit?
Auslöser ist oft eine hohe Anzahl von Unfällen im eigenen Unternehmen. Klingt trivial, aber leider gehen nicht alle das Thema gründlich und systematisch an, bevor etwas passiert.
Was beobachten Sie stattdessen?
Häufig ist die erste Reaktion auf Unfälle, dass Aktivitäten initiiert werden, die genau diese Art von Unfällen verhindern sollen. So kann es nicht weitergehen, heißt es dann. Nach Handverletzungen werden für die Mitarbeiter Handschuhe beschafft, nach Stolperunfällen die Stolperfallen beseitigt. Das führt in der Regel dazu, dass weniger Verletzungen auftreten. Doch nach einiger Zeit steht immer noch vieles unverbunden nebeneinander und jeder Vorfall führt zu einer neuen Aktivität, die mit den bisherigen Aktivitäten wenig Berührungspunkte hat.
Es reicht also nicht, von Fall zu Fall zu reagieren?
Nein, es ist nur der erste Schritt. An diese Phase der einzelnen, unverbundenen Aktivtäten für mehr Arbeitssicherheit schließt sich normalerweise eine einfache aber wertvolle Erkenntnis an: Wer systematisieren und standardisieren will, muss ein System aufsetzen, ein Arbeitsschutzmanagement, in dem Prozesse, Strukturen, Anweisungen, Checklisten erarbeitet werden, die das Thema Arbeitssicherheit stärken sollen.
Regeln und Prozesse kann man veröffentlichen und überall und immer wieder auf ihre Einhaltung pochen. Was spricht dagegen?
Zunächst mal gar nichts. Tatsächlich führt das systematische Erarbeiten von sicherheitsförderlichen Standards und Abläufen dazu, dass die Anzahl der Unfälle sinkt. Dies ist ein guter Erfolg, aber bald nach der Einführung von Systemen und Prozessen stagniert die Anzahl an Unfällen auf einem gewissen Niveau und wird einfach nicht kleiner. Das ist ähnlich wie bei der ersten Phase, in der die unverbundenen Reaktionen eben auch nicht zu einer umfassenden Lösung führten. Also wieder ein Strohfeuer.
Woran liegt das?
Wenn Vorgehen und Abläufe minutiös standardisiert, beschrieben und dokumentiert werden, um größtmögliche Sicherheit zu gewinnen, machen das meist nicht die handelnden Mitarbeiter, die wir als Experten der Situation betrachten sollten. Stattdessen sind Experten damit befasst, die sich vor allem um Prozessstandardisierung oder Arbeitssicherheit kümmern. Die, die davon ganz direkt profitieren sollen, sind sehr oft nur die Empfänger der Regeln und Anweisungen und sollen sich dann entsprechend verhalten.
Ok. Und was heißt das?
Die Welt ist so komplex, dass auch der beste Experte nicht alle Situationen vorhersehen und in Regeln und Anweisungen verarbeiten kann. Die Ergebnisse seiner Arbeit passen sicherlich auf die Mehrheit aller Situationen, aber eben niemals auf alle. Eine Welt, in der es für jedwede Situation funktionierende Handlungsanweisungen gibt, mag für viele erstrebenswert erscheinen, bleibt aber eine Illusion. Um die Zahl der Unfälle noch weiter zu reduzieren, bleibt Unternehmen letztlich nur die Arbeit an der Sicherheitskultur. Es geht um ein klares unternehmerisches Ziel: Null Unfälle ist die Kultur. Dazu braucht es eine Verbundenheit im Unternehmen, ein Wir-Gefühl, in dem aus der Verantwortung für sich und andere eine ungeschriebene, subtil bindende und verbindliche Regel entsteht: ‚So machen wir das hier.‘
Warum ist diese Sicherheitskultur höher zu bewerten als Regeln und Systeme?
Das eine geht ohne das andere nicht. Kultur klappt nicht ohne Konzept. Aber ein wichtiger Unterschied sei noch angeführt. Nachdem die Regeln nicht von denjenigen aufgestellt wurden, die die Regeln zu befolgen haben, droht eine Situation, in der im Fall eines Unfalls auf die Experten gezeigt und ein Vorwurf laut wird: ‚Ihr seid schuld – wenn Ihr Experten uns Mitarbeitern die richtigen Regeln gegeben hättet, dann hätten wir jetzt keinen Unfall‘. Anders herum funktioniert es leider auch: ‚Ihr seid schuld – Ihr Mitarbeiter haltet euch offensichtlich nicht an unsere Regeln, denn wenn Ihr sie befolgt hättet, hätten wir jetzt keinen Unfall‘. Das ist leider typisch für Unternehmen, die sich der Arbeitssicherheit bis dato vor allem auf einer System-Ebene verschrieben haben.
Können Sie beschreiben, was Sicherheitskultur ausmacht, jenseits eines Wir-Gefühls?
Der Begriff Sicherheitskultur wurde erstmals in der Branche der Atomenergie genannt. Das war im April 1986, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Sicherheitskultur ist Teil der Unternehmenskultur und die wiederum lässt sich in vielen verschiedenen Facetten fassen: Werte, Normen, Einstellungen, Grundannahmen, Denkmodelle und Handlungsmuster, die der einzelne Beschäftigte mit den anderen Beschäftigten in einem Unternehmen teilt. Aber diese Definition passt eher in ein Lexikon. Für unseren Kontext bei thyssenkrupp nutzen wir eine deutlich einfachere Definition, mit der wir sehr gute Erfahrung gemacht haben: Unternehmenskultur ist das, was für uns wichtig ist und was für uns normal und akzeptabel ist. Diese Definition können wir uns viel einfacher einprägen, sie soll uns in unserem Handeln leiten, daher hat sie einen viel stärkeren Bezug zu dem Verhalten aller thyssenkrupp Mitarbeiter im Arbeitsalltag.
Greift das Programm auch bei Gesundheitskrisen wie der aktuellen Corona-Epidemie?
Ja, das Programm zielt auch darauf ab, Teams auf den Umgang mit Krisensituationen vorzubereiten. Es wird thematisiert, welche Verhaltensmuster im Team die Resilienz einer Organisation stärken und welche eher hinderlich sind. Vorbereitete Teams können Krisen aller Art besser bewältigen, gleichgültig ob schwere Unfälle, Epidemien oder andere Notfälle.
Für mehr Informationen zu den Pathways Programmen hier: https://www.thyssenkrupp-academy.com/pathways-to-safety