Psychische Gesundheit im Job: offener über mentale Probleme sprechen
Wenn es um die Gesundheit am Arbeitsplatz geht, ist Dr. med. Anja Berkenfeld erste Ansprechpartnerin.
Seit 2002 ist die Fachärztin für Innere Medizin und Arbeitsmedizin im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz von thyssenkrupp tätig. Dabei trifft sie aber nicht nur auf Schnupfnasen und Schnittwunden – auch psychische Erkrankungen werden für ihr Team zu einer immer größeren Herausforderung.
Wir haben uns mit Dr. Berkenfeld über die digitale Arbeitswelt, Gründe für psychisch-begründete Krankmeldungen und die Angebote von thyssenkrupp zur Förderung der mentalen Gesundheit aller Kollegen unterhalten.
Frau Dr. Berkenfeld, was sind die größten Veränderungen der Arbeitswelt, die Sie als Arbeitsmedizinerin in den vergangenen 10 Jahren erkennen?
Eine der großen Geschichten ist sicher die Digitalisierung. Wir müssen heute immer flexibler denken und arbeiten, uns täglich auf neue Herausforderungen einstellen, lebenslang dazulernen. Wer heute neu ins Arbeitsleben einsteigt, hat das alles schon früh gelernt und weiß besser damit umzugehen – für Kolleg:innen, die nicht mit der digitalen Welt aufgewachsen sind, kann dieser Übergang aber eine große Herausforderung darstellen.
Wie haben sich diese Veränderungen auf die Arbeitswelten bei thyssenkrupp ausgewirkt?
Insgesamt entwickeln wir uns weg von der physischen und hin zur Denk-Arbeit – das ist ein ganz entscheidender Aspekt der Digitalisierung. Nehmen wir ein Walzwerk: Früher war der Anteil schwerer körperlicher Arbeit hier noch deutlich größer. Heute gibt es Roboter und Maschinen, die Teile dieser analogen Arbeit übernommen haben, dafür aber eine komplexe, extrem anspruchsvolle digitale Programmierung und Überwachung erfordern. Letztlich sind das also vollkommen neue Jobprofile, obwohl der Arbeitsplatz an sich derselbe ist.
Laut der Bundesregierung haben sich die Krankmeldungen aufgrund psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen seit 2007 mehr als verdoppelt. Wie beurteilen Sie diese Zahl?
Gründe für den Anstieg gibt es sicher mehrere. Ich denke, dass dabei ein gesellschaftliches Problem eine Rolle spielt, das wir langsam überwinden: die psychische Erkrankung als Tabuthema. Noch vor zehn, fünfzehn Jahren hat man sich mit einer Depression meist nicht an die Betriebsärzt:innen oder gar die Vorgesetzten gewendet, sondern den Hausarzt aufgesucht und im Zweifel eine andere Erkrankung vorgeschoben. Heute sind psychische Erkrankungen gesellschaftsfähiger geworden – gerade durch die öffentlichen Diskussionen und prominenten „Outings“ beim Thema Burnout. Wir sprechen heute offener über mentale Probleme. Und ich glaube, dass diese Entwicklung dazu beigetragen hat, dass sich die Fallzahlen psychischer Krankheiten erhöht haben. Die neuen Arbeitsformen und das moderne Alltagsleben an sich spielen sicherlich auch eine große Rolle. Insgesamt ist die Welt heute schnelllebiger als vor zehn Jahren und bietet eine Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten, die manchmal auch überfordern können
Trotzdem der Hinweis an der Stelle, dass Muskel-Skelett-Erkrankungen und Atemwegserkrankungen nach wie vor die häufigsten Diagnosen sind.
Erkennen Sie auch Vorteile durch die Veränderungen durch Digitalisierung und „New Work“?
Alles, was Nachteile mit sich bringt, birgt auch Chancen. Derzeit entstehen völlig neue Jobprofile, an die vor einigen Jahren noch niemand gedacht hat. Darüber hinaus kann digitale Kommunikation Mitarbeitende auch entlasten, weil zeitfressende Dienstreisen oft nicht mehr notwendig sind und globale Projekte viel einfacher koordiniert werden können. Webkonferenzen und Video-Meetings sehe ich deshalb als gute Sache. Und wenn der Job es hergibt, eröffnet die Digitalisierung auch mehr Gestaltungsmöglichkeiten, um Freizeit und Karriere zu vereinen, da ist heute Vieles möglich.
Das alles muss man aber immer auch können und wollen. Entscheidend ist, wie ich als individueller Mensch auf die Veränderungen in der Arbeitswelt reagiere. Und da ist jede:r unterschiedlich.
Welche Maßnahmen und Projekte ergreift Ihr Team, um die Mitarbeitenden bei thyssenkrupp psychisch „fit“ zu halten?
Bei uns haben wir ein entscheidendes Problem früh erkannt: Wenn ich als Betriebsärztin heute beispielsweise eine Depression diagnostiziere, ist es für den/die Patient:in meist extrem schwierig, zeitnah einen geeigneten Platz bei einem/einer passenden Therapeut:in zu finden. Häufig dauert das drei bis sechs Monate – die Probleme sind aber oft akut.
Deshalb bieten wir unseren Mitarbeitenden seit etwa fünf Jahren ein deutschlandweites „Employee Assistance Program“ an: Bei Problemen kann sich jede:r Kolleg:in an ein externes Expertenteam wenden, das telefonisch rund um die Uhr erreichbar ist und einschätzt, wie dringlich das Problem ist. Im akuten Fall vermitteln sie dem/der Erkrankten innerhalb drei bis fünf Tagen einen Termin bei einem/einer geeigneten Therapeut:in. Bisher ist diese Frist immer eingehalten worden, das Angebot funktioniert richtig gut. Das heißt aber nicht, dass jeder direkt eine:n Therapeut:in benötigt. Die Expert:innen am Telefon helfen auch telefonisch bei unterschiedlichsten Herausforderungen im Alltag weiter, wie zum Beispiel bei Problemen mit der Kindererziehung oder einem Konflikt mit dem Chef.
Darüber hinaus können thyssenkrupp Mitarbeitende viele verschiedene Kursangebote, wie Yoga, Pilates und mehr nutzen. Die Academy bietet ein umfangreiches Seminarangebot, z.B. zum Thema Achtsamkeit.
Wie sorgen Sie dafür, dass psychische Belastungen am Arbeitsplatz im besten Fall gar nicht erst entstehen?
Das Arbeitsschutzgesetz schreibt vor, dass jede Tätigkeit auf ihre Gefährdung hin analysiert werden muss. Für die Arbeit an einer Maschine fragen wir uns deshalb etwa, wie laut die Maschine sein darf oder ob durch sie Menschen verletzt werden können. Die gleiche Beurteilung gibt es für die Psyche. Sie nennt sich offiziell „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“. Wir bei thyssenkrupp beurteilen psychische Belastungen entlang der vier Parameter Arbeitsinhalt, Arbeitsorganisation, soziale Beziehungen sowie Arbeitsumfeld. Sie bilden die Grundlage für die Beurteilung, ob ein Arbeitsplatz das Potenzial hat, Mitarbeitende psychisch zu gefährden.
Dabei gibt es Arbeitsbedingungen, die als gesundheitsfördernd gelten, beispielsweise ein funktionierender Informationsfluss, ausreichend Handlungsspielraum, Feedback oder eine gute Zusammenarbeit mit den Kollegen und Kolleginnen. Es gibt aber auch solche, die länger andauernd zum Beispiel zu chronischem Stress oder zur Erschöpfung führen. Müssen ständig Überstunden gemacht werden oder gibt es immer wieder Ärger im Team, kann das auf Dauer krank machen. Insbesondere wenn mehrere Gefährdungen zusammenkommen. Hier schauen wir uns im Rahmen der Beurteilung genau an, wie diese vielen Aspekte in den Bereichen gestaltet sind. Auf dieser Basis haben wir in den vergangenen Jahren viele verschiedene Aktivitäten abgeleitet, um unsere Arbeitsplätze gesünder zu gestalten.
Können Sie uns konkrete Beispiele dafür nennen?
Konkrete Maßnahmen sind meistens sehr tätigkeits- oder teamspezifisch. Probleme und deren Ursachen reichen von A-Z und genau so bunt ist auch der Maßnahmenkatalog. Häufig konnte mit einfachen Maßnahmen schon viel gelöst werden. So wurde zum Beispiel in einer Abteilung einfach eine Info-Tafel installiert, da ständig Informationen fehlten, die für die Arbeit notwendig waren.
In einem anderen Team wurden Aufgaben neu verteilt, sodass einige Kolleg:innen nicht ständig auf Dienstreise sind, andere dafür auch mal attraktive Außentätigkeiten wahrnehmen können und nicht nur im Büro sitzen. Der Weg zu mehr psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz ist also oft sehr simpel und intuitiv. Schwieriger wurde es immer bei Konflikten im Team. Hier wurden viele moderierte Gespräche geführt, um an den Ursachen zu arbeiten und einen zukünftigen besseren Umgang miteinander zu vereinbaren.
Welche Verantwortung trägt der Arbeitgeber beim Thema psychische Gesundheit?
Der Arbeitgeber trägt die Verantwortung dafür, Arbeitsplätze gesund und sicher zu gestalten. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, werden Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt und zielgerichtet Maßnahmen abgeleitet. Wir wissen aber auch, dass jede:r von uns ein ganzheitlicher Mensch ist. Jede:r von uns hat ein berufliches und ein privates Leben. Das heißt, der/die Arbeitgeber:in trägt nicht jederzeit die volle Verantwortung für die psychischen Erkrankungen seiner Mitarbeitenden. Trotzdem wollen wir bei thyssenkrupp die Mitarbeitenden auch zu einer gesunden Lebensweise befähigen, ihnen Möglichkeiten geben, ihre Resilienz zu stärken, z.B. durch Stressmanagementseminare oder Entspannungskurse. Außerdem motivieren wir sie dazu, sich Hilfe zu holen in Situationen, in denen nichts mehr geht.
Was können Kolleg:innen selbst für ihre psychische Gesundheit tun – und was wäre die richtige Vorgehensweise, wenn sie unter psychischer Belastung im Job leiden?
Meine Überzeugung ist: Wenn ich merke, dass etwas an meinem Arbeitsplatz nicht stimmt, spreche ich zuerst mit meiner Führungskraft. Ist die Führungskraft selbst das Problem, kann man sich an die nächsthöhere Führungskraft, den Betriebsrat oder Betriebsarzt:in wenden. Möchte man lieber erst einmal ganz anonym bleiben, kann die EAP-Hotline helfen. Nicht zuletzt ist auch immer die Frage sinnvoll, was ich selbst tun kann, um meine Situation zu verbessern. Am Ende hängt es aber immer vom konkreten Einzelfall ab.