Neuronale Netze für leisere Lenkgetriebe
Während der Autofahrt sollen unangenehme Geräusche möglichst leise sein, während Warnsignale bis zum Fahrer durchdringen müssen. Unsere Experten bei thyssenkrupp Automotive Technology haben hierfür künstliche, neuronale, Netzwerke entwickelt für eine präzise Bestimmung der Qualität unserer Kugelgewindetriebe.
Lenkgetriebe unterliegen in der Produktion daher nach Fertigstellung eines Teils aufwendigen Endkontrollen, bei denen unter anderem ihre akustischen Eigenschaften präzise gemessen werden. Sie bestehen allerdings aus Dutzenden beweglichen und starren Komponenten, von denen viele einen Einfluss auf die Qualität haben.
Besonders wichtig ist dabei der Kugelgewindetrieb. Er überträgt nach dem Prinzip eines Schraubgetriebes die Lenkbewegung auf die Achse. Damit hat es einen erheblichen Anteil an den vibroakustischen Eigenschaften des Gesamtsystems.
Lenkgetriebe-Akustik: Keine Glaskugel für die Straße
In der Produktion untersucht man darum zunächst die Eigenschaften des Kugelgewindetriebes. Dazu wird er in einem Prüfstand in Drehung versetzt, wobei die auftretenden Vibrationsfrequenzen gemessen werden. Wenn ihre Amplitude innerhalb bestimmter Bereiche des betrachteten Spektrums die von Akustikexperten vorgegebenen Grenzwerte überschreitet, gilt der Kugelgewindetrieb als Ausschuss. Besteht er hingegen den Test, kann er in das Lenkgetriebe verbaut werden – das dann idealerweise ebenfalls ohne Beanstandung durch die akustische Prüfung kommen sollte.
Doch in der Praxis ist das nicht so einfach: Auch ein als für gut befundenes Kugelgewindetrieb kann dazu führen, dass das Lenkgetriebe im Test trotzdem durchfällt. Dafür gibt es mehrere Gründe: Einerseits ist es schwierig, eine Korrelation zwischen der Qualität der einzelnen Komponenten und dem gesamten Lenkgetriebe herzustellen, sodass dafür statistische Verfahren herangezogen werden müssen. Andererseits werden die Grenzwerte für die Amplituden der Vibrationsfrequenzen subjektiv durch Versuchsfahrten mit Vorserien-Komponenten ermittelt. Und schließlich beruht das Vorgehen bei der Endkontrolle auf der Annahme, dass bereits das einmalige Überschreiten eines einzigen akustischen Grenzwertes auf ein minderwertiges Bauteil hinweist – das kann zu sogenanntem „Pseudoausschuss“ führen.
Akustische Prüfung von Lenkgetrieben: Versunken im Datenmeer
Zusätzlich besteht eine weitere Herausforderung, sagt Paul Alexandru Bucur, Projektleiter Advanced Analytics bei thyssenkrupp im liechtensteinischen Eschen: „Bei unseren akustischen Kontrollen entstehen etwa 6 bis 12-sekündige Akustikaufnahmen, aus denen unsere Akustikexperten grundsätzlich Rückschlüsse auf die Qualität der Komponenten ziehen können. In der Praxis sind solche Datenmengen aus mehreren Millionen Datenpunkten pro Aufnahme für einen Menschen aber unüberschaubar und unsere Akustik-Experten können nicht acht Stunden pro Tag Lenkgetrieben lauschen.“
KI-Unterstützung: Das künstliche neuronale Netz lauscht
Mit seinem Experten-Team von thyssenkrupp Automotive Technology in Eschen hat Bucur darum ein Verfahren entwickelt, bei dem ein künstliches neuronales Netz auf Grundlage spezieller Regeln gemeinsame Muster im vibroakustischen Verhalten von Kugelgewindetrieben und Lenkgetrieben automatisch erkennt und so zu verlässlicheren Testergebnissen zu kommt. Die eigentliche Kernidee des Projekts ist aber, dass nicht die menschlichen Experten die benötigten Regeln aufstellen, sondern das neuronale Netz diese automatisch erlernt.
„Dafür haben wir ein neuronales Netz im ersten Schritt angelernt“ erklärt Bucur. „Das bedeutet: Wir ‚füttern‘ es mit Referenz-Datensätzen von Lenkgetrieben und Kugelgewindetrieben, deren Qualität variieren kann, aber grundsätzlich bekannt ist. Im zweiten Schritt erkennt die KI dann Zusammenhänge innerhalb der Daten. Dies erlaubt uns Rückschlüsse zu ziehen, ob das Lenkgetriebe mit einem bestimmten, eingebauten Kugelgewindetrieb qualitativ gut oder schlecht wird."
Dabei betrachtet das neuronale Netz nicht mehr nur einzelne Abschnitte des Frequenzspektrums, sondern alle. So kann es komplizierte Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften der Bauteile erkennen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse dienen dann wie gewohnt dazu, zunächst den Kugelgewindetrieb zu testen, um dadurch auf die Qualität des späteren Lenkgetriebes zu schließen.
Neuronales Netz führt zu neuen Erkenntnissen über Produktqualität
Das neue Verfahren hat Erfolg. So kann das künstliche neuronale Netzwerk Datenbereiche aufspüren, die bei der Qualitätsmessung bislang nicht berücksichtigt wurden. Genau diese Bereiche geben aber ebenfalls Aufschluss über die Qualität des Kugelgewindetriebes, sodass das Augenmerk auf dem Prüfstand entsprechend angepasst wurde. Die Ergebnisse des Lernprozesses im Netzwerk sind keine abstrakten Muster, sondern lassen sich auf physikalische Effekte im Produktionsprozess zurückführen.
Für thyssenkrupp Automotive Technology ist das neue Verfahren auch wirtschaftlich von großer Bedeutung, denn das Unternehmen produziert am Standort Schönebeck jedes Jahr große Mengen an Kugelgewindetrieben. Von dort gehen sie an weitere Standorte in Europa und der ganzen Welt, wo sie in Lenkgetriebe eingebaut werden. Zwei bis drei Tage dauert der Transport innerhalb Europas – sechs Wochen nach Mittelamerika und Asien. Umso wichtiger ist es, dass die Komponenten während der Endmontage in die Lenkgetriebe keine Probleme machen.
Einführung markiert kontinuierlichen Change-Prozess
Der gelernte Mathematiker und ehemalige Software-Entwickler Bucur sieht die Einführung des neuronalen Netzes als Startpunkt eines langfristigen Prozesses, der zahlreiche organisatorische Veränderungen mit sich bringt. „Dabei geht es nicht nur um technische Aspekte. Früher konnten wir anhand der von den Kollegen aufgestellten und deshalb klar definierten Regeln zum Beispiel sofort sehen, wenn bestimmte Frequenzbereiche Probleme bereiten. Beim neuronalen Netz gibt es eine solche Form nachvollziehbarer Regeln aber nicht, denn die vom Netz selbstständig erlernten Muster sind für den Menschen nur sehr schwer interpretierbar.“
Weil es nun sehr gefährlich wäre, dem neuronalen Netz blind zu vertrauen, hat es das Team geschafft, die komplexen Muster zu visualisieren. „So sind wir in der Lage, gemeinsam mit unseren Akustikexperten überprüfen zu können, ob die vom neuronalen Netz erlernten Inhalte physikalisch relevant sind“, so Bucur. Zudem ergänzt der Experte, dass das Gelernte ständig überprüft werden muss. Denn: Nicht nur die Muster selbst und die Produkte verändern sich mit der Zeit – auch die internen Produktionsprozesse sowie die Qualität der eingesetzten Materialien sind nicht durchgehend identisch.
Testpilot macht Lenkgetriebe verlässlicher und günstiger
Trotzdem wiegt der Mehrwert für die akustische Prüfung die organisatorischen Herausforderungen mehr als auf. Noch ist das künstliche neuronale Netz in der Erprobungsphase, doch positive Effekte machen sich bereits bemerkbar, sagt Bucur: „Der entscheidende Vorteil des neuronalen Netzes ist, dass wir nun frühzeitig – also noch während der Produktion – erkennen können, ob einzelne Komponenten wie etwa Kugelgewindetriebe unseren akustischen Qualitätsansprüchen nicht gerecht werden. Und nicht erst dann, wenn das gesamte Lenkgetriebe schon zusammengebaut ist. Das spart Zeit, Material – und letztlich spürbar Kosten.“
Und so trägt das neuronale Netz zu größerer Verlässlichkeit bei der Beurteilung der Kugelgewindetriebs und damit des Gesamtsystems Lenkgetriebe bei. Kein Wunder, dass es auch in anderen Bereichen Projekte mit künstlichen neuronalen Netzen gibt – denn durch ihre höhere Vorhersagekraft können sie beispielsweise auch verwendet werden, um die Testzeit bei industriellen Endkontrollen zu verkürzen.