In der Ruhe liegt die Kraft: Magnetlager für die Computertomografie
22.09.2020 I Güllü Beydilli
Die Computertomografie erzeugt heute eine Geräuschkulisse, die viele Patienten als sehr unangenehm empfinden. Ein neues Magnetlager von thyssenkrupp schafft Abhilfe: Auf ihm bewegt sich die Röntgenkamera fast lautlos.
Die Untersuchung beginnt. „Und jetzt bitte nicht mehr bewegen.“ Die Röntgenassistentin schließt die Tür hinter sich. Der Patient ist allein. Begleitet von surrenden und brummenden Geräuschen, schiebt sich der Untersuchungstisch Millimeter für Millimeter durch einen Tunnel, um den die Röntgenkamera rotiert. Obwohl die Computertomografie (CT) völlig berührungslos abläuft, empfinden viele Patienten die Untersuchung als belastend: Allein und umgeben von Technik, werden Sekunden zur Ewigkeit. Das Stillhalten fällt schwer. Das Surren und Brummen der Maschine strapaziert die Nerven – die ohnehin schon blank liegen, wenn man Angst vor der anstehenden Diagnose hat.
Im Vergleich zum Röntgen ermöglicht die Computertomografie überlagerungsfreie Aufnahmen aus dem Innern des menschlichen Körpers. Die Technik dahinter ist jedoch extrem laut – ein großer Stressfaktor für Patienten.
Stille als Wettbewerbsvorteil
„Für die Anlagen-Hersteller ist es sehr wichtig, dass ihre Geräte möglichst leise arbeiten. Eine geringe Geräuschkulisse ist ein messbares und für den Patienten erlebbares Qualitätskriterium“ erklärt Bernd Lüneburg, Leiter Forschung und Entwicklung bei thyssenkrupp rothe erde. Das gilt auch für die Geschwindigkeit. Je schneller sich die Kamera des Computertomografen dreht, desto kürzer ist die Zeit für die Untersuchung und desto hochauflösender sind die Bildsequenzen. Das senkt zudem die Strahlenbelastung und spart Kosten.
„Die Magnetlagertechnologie als „digitale Lagerlösung“ eröffnet umfangreiche Möglichkeiten, sowohl für die CT- Entwicklung als auch für den Betrieb und den Service von CT-Scannern“, so Lüneburg. Dank der Regelbarkeit der Lagerkräfte kann zum Beispiel die Kamera exakt positioniert werden. Weitere Vorteile liegen in einer möglichen Integration der Antriebseinheit und Nutzung der Sensorinformationen für den Service der Anlagen.
Bei thyssenkrupp entwickelt Lüneburgs Team darum die „digitale Lagerlösung“ für die CT-Anlagen der Zukunft. An der Wand der Versuchshalle in Lippstadt rotiert der Prototyp. Kein Surren, kein Brummen. Lautlos umkreist der fast 300 Kilogramm schwere Rotor einen Innenring, der so groß ist wie ein CT-Tunnel. Stabilisiert wird das stille Lager durch die unsichtbaren Kräfte Dutzender Elektromagneten.
Computertomografie: Magnet- schlägt Großwälzlager
Das Magnetlager in Lippstadt ist aktuell eines der weltweit größten und leistungsfähigsten. Es soll den Herstellern von CT-Anlagen neue Möglichkeiten eröffnen. Bisher waren die Gerätebauer auf Großwälzlager angewiesen: In diesen riesigen Lagern verringern Kugeln oder Rollen die Reibung, wenn sich stehender und drehender Ring gegeneinander bewegen. Bei der Computertomografie sorgen beispielsweise die Großwälzlager dafür, dass eine schwere Röntgenkamera, die auf dem drehenden Ring befestigt ist, mit hoher Geschwindigkeit um den Patienten kreist und diesen durchleuchten kann. Auf der gegenüberliegenden Seite des Rings fangen Detektoren die Röntgenstrahlen auf, die nicht von Gewebe oder Knochen absorbiert wurden. Aus diesen Signalen errechnet der Computer dreidimensionale Schnittbilder, mit deren Hilfe der Radiologe Knochenbrüche, Arthrosen oder auch tumorartige Veränderungen der Organe diagnostizieren kann.
Die Bewegung der Kamera auf dem drehenden Ring – in Highend-Geräten rotiert dieser bis zu 300 Mal pro Minute um den Patienten – erzeugt zwangsläufig Geräusche. Es surrt und brummt, wenn sich die Wälzkörper im Lager bewegen. Je nach Drehzahl kann die Geräuschbelastung, der ein Patient bei der Computertomografie ausgesetzt ist, genauso intensiv und nervtötend sein wie die eines lauten Rasenmähers.
Projekt „Stilles Lager“
Um das Schallproblem zu überwinden, startete thyssenkrupp rothe erde bereits vor einigen Jahren das Projekt „Silent Bearing“, übersetzt „stilles Lager“. „Wir hatten ein Ziel: ein möglichst lautloses, reibungsarmes und verschleißfreies Lager zu entwickeln“, berichtet Lüneburg. In diesem innovativen Lager sollten nicht Wälzkörper, sondern magnetische Kräfte den stehenden Statorring und den drehenden Rotorring auf Abstand halten.
Diese Idee an sich ist nicht neu. In Zentrifugen, Werkzeugmaschinen, Pumpen und Kompressoren sorgen elektromagnetische Lager seit Langem dafür, dass rotierende Komponenten mit hohen Drehzahlen verschleißfrei arbeiten. Für großtechnische Anwendungen, bei denen bisher Großwälzlager eingesetzt werden, sind diese Lagerungen jedoch wegen der komplexen Regelungstechnik sowie hohen Anforderungen an die Fertigung bislang nur sehr eingeschränkt geeignet.
Transrapid-Technologie für die Computertomografie der Zukunft
Die Ingenieure bei thyssenkrupp entwickelten daher ein neues Konzept. Pate stand der Transrapid: Der Hochgeschwindigkeitszug schwebt auf einem magnetischen Wanderfeld, das der Erdanziehungskraft entgegenwirkt. Ein Elektromagnet erzeugt das Feld. Dieser sorgt so dafür, dass das Fahrwerk die Schiene nicht berührt und reibungslos über sie hinweggleitet.
Das Prinzip eines magnetischen Feldes, das den Rotor des Lagers zum Schweben bringt, sodass es sich beinahe lautlos bewegt, ist inspiriert vom TransRapid.
Dieses Prinzip nutzt jetzt Lüneburgs Team, um Medizintechnik zum Schweben zu bringen. Dutzende von Elektromagneten, die in den Stator integriert sind, erzeugen ein Feld, das den aus magnetisierbarem Stahl gefertigten Rotor anzieht. Durch intelligente Regelung entsteht zwischen Stator und Rotor ein feiner Luftspalt von circa 1,5 Millimetern. „Am herausforderndsten war es, diesen Luftspalt jederzeit offenzuhalten – selbst wenn die schwere Röntgenkamera das Lager nur auf einer Seite belastet“, erzählt Lüneburg. 48 Elektromagnete – axial und radial, also längs der Drehrichtung und quer dazu – mussten in den Stator integriert werden. Dazu kamen noch Sensoren, die während des Betriebs ständig die Größe des Luftspalts messen.
Ein angeschlossener Computer wertet die Daten aus und sendet Steuerbefehle an die einzelnen Elektromagnete. Diese müssen den Rotor auf wenige Mikrometer genau ausrichten. Dabei ist es egal, ob er sich dreht oder gerade angehalten wurde, ob er eine Last trägt oder nicht. Die Steuerungs- und Regelungstechnik für das stille Lager entwickelten die Ingenieure von thyssenkrupp zusammen mit der Hochschule Zittau.
Fanglager für den Notfall
Dass sie tatsächlich funktioniert, zeigen Untersuchungen am Prototyp, der lautlos an der Wand der Versuchshalle rotiert. Er kann einseitig mit bis zu 750 Kilogramm, der theoretisch maximalen Nutzlast einer CT-Anlage, belastet werden. Die Elektromagneten halten ihn stets in der richtigen Position. Und was passiert, wenn der Strom ausfällt? Ein Rotor in einem Lager dieser Größe, das ausschließlich durch elektromagnetische Kräfte in der Schwebe gehalten wird, würde schlagartig auf den Stator stürzen und beträchtlichen Schaden anrichten. Die Ingenieure haben daher für den Notfall ein Fanglager im Stator integriert: einen Bronzering, der die Bewegung abbremst, wenn die Elektromagneten versehentlich abgeschaltet werden.
Patentierte Technik
Das neue Magnetlager hat thyssenkrupp bereits patentieren lassen. „Die Technik ist so weit ausgereift, dass wir sie in beliebigen Anwendungen erproben können“, so das Fazit von Bernd Lüneburg. Für die Hersteller von Computertomografie-Anlagen ist das eine gute Nachricht: Sie können künftig geräuschlose Geräte bauen, die nicht nur die Nerven der Patienten schonen.
Protoyp: Bis zu 750 Kilogramm kann das speziell für die Computertomografie entwickelte Magnetlager tragen – bei einem Gesamtdurchmesser von rund einem Meter und aktuell bis zu 150 Umdrehungen in der Minute.
In Zukunft wollen die Ingenieure bei thyssenkrupp die stillen Lager auch noch beschleunigen. Der Prototyp erreicht derzeit 150 Umdrehungen pro Minute. Durch eine weitere Optimierung der Regelungstechnik wollen die Ingenieure 300, später vielleicht sogar noch höhere Umdrehungen erreichen. Damit würden die Magnetlager schneller drehen als heutige Highend-Geräte, die mit Wälzlagern arbeiten. Diese Erhöhung der Rotationsgeschwindigkeit hätte dabei viele Vorteile: Die Untersuchung bei der Computertomografie ginge schneller. Die Strahlenbelastung für den Patienten wäre geringer. Und der Radiologe könnte dynamische Prozesse in Echtzeit verfolgen – beispielsweise das Öffnen und Schließen der Herzklappen.
Und das Beste: Nicht nur die Medizin kann von der neuen Technik profitieren, betont Lüneburg. „Dort, wo Geräuscht und Schmiermittel vermieden werden sollen und trotzdem nach Präzision verlangt wird, sind berührungslose Magnetlager eine vielversprechende Alternative zu Großwälzlagern. Beispiele dafür sind die Steuerung von Teleskopen in Observatorien, Radarantennen auf Schiffen oder die Montage von Satelliten im Reinraum.“