Gegen den Smog in Indien: Biomasse statt Luftverschmutzung
09.07.2019
Jahr für Jahr brennen in vielen Regionen Nordindiens Reis- und Weizenfelder – und dunkle Rauchschwaden verpesten die ohnehin vom Smog belastete Luft Neu-Delhis noch einmal zusätzlich. Eine neue Technologie von thyssenkrupp könnte das aus der Not der lokalen Landwirte geborene sogenannte „stubble burning“ nun beenden. Und das indische Stromnetz zugleich mit grün-erzeugter Energie versorgen.
Während Europäer die letzten Monate des Jahres gerne für einen Spaziergang an der kalten, frischen Herbst-Luft nutzen, verlassen viele Bürger im indischen Delhi ihr Haus in dieser Zeit mit einer Atemschutzmaske. Ein Grund dafür ist der Smog, der die Metropolregion an 365 Tagen im Jahr in seinem Bann hat. Eine Studie der Universität Chicago zeigt, wie dramatisch die Lage ist: In Europa verkürzt sich die Lebenszeit wegen der Feinstaubbelastung um durchschnittlich ein bis zwei Monate – in Indien sind es 4,3 Jahre. Es ist das Land, in dem viele der am stärksten verschmutzten Städte der Welt liegen.
Schon seit Jahren kämpfen die Bewohner Neu-Delhis mit dichtem Smog, der ihre Stadt fest im Bann hat. In den letzten Monaten des Jahres wird das gesundheitsgefährdende Phänomen durch die brennenden Felder noch schlimmer.
Aber es sind gerade die Novembertage, in denen der Dunst der Megacity noch einmal dichter und bedrückender wird. Sobald die Reisfelder in den an Neu-Delhi angrenzenden Bundesstaaten Punjab, Haryana und Uttar Pradesh abgeerntet sind, vermischt sich der Feinstaub des Verkehrs mit dem schwarzen Rauch von Millionen Tonnen Pflanzenresten, die innerhalb weniger Tage in Flammen aufgehen. Die Anbauflächen des in Indien heiligen Nahrungsmittels brennen – angezündet von den Besitzern selbst.
Phänomen „Stubble Burning“: Für die Bauern geht es um ihre Existenz
Der Bundesstaat Punjab gilt als der Brotkorb Indiens. Etwa 140 Millionen Tonnen Rohreis werden alleine hier jährlich geerntet. Der Grund, aus dem die lokalen Landwirte ihre Felder nach der Ernte in Brand stecken: Sie müssen teilweise bis zu drei Ernten pro Jahr einfahren – und ihre Äcker zwischen den Ernten für die neue Saat vorzubereiten. So bleibt den Bauern nur ein minimales Zeitfenster. Im Vergleich zum teuren und aufwändigen Räumen der Felder durch spezielle Landmaschinen ist das Abbrennen deutlich günstiger und effizienter.
Das „stubble burning“ – Stoppelabbrennen – ist ein relativ neues Phänomen: Während die indischen Landwirte bis in die 1980er Jahre ihre Ernte noch per Hand einholten, blieben nach der Einführung des Mähdreschers auf immer mehr Feldern etwa 30 Zentimeter hohe Pflanzenstoppel stehen. Zwei Millionen Bauern gibt es alleine in Punjab, die meisten leben am Existenzminimum. Neue Feldmaschinen, um die zeitkritische Arbeit schneller zu verrichten, können sich trotz staatlicher Unterstützung nur wenige leisten. Aus der Not heraus wählt der Großteil das Feuer, um die Stoppeln rechtzeitig zu vernichten – selbst, wenn sich die Bodenqualität dadurch Jahr für Jahr verschlechtert.
Weil indische Reisbauern ihre Ernte drei Mal im Jahr einholen müssen, bleibt zwischen den Wachstumsperioden nur wenig Zeit. Oft ist das sogenannte „Stoppelabbrennen“ ihr einziger Ausweg.
Mit verschiedenen Maßnahmen versuchen Politiker, das Feuer und den erdrückenden Rauch einzudämmen. Trotz offiziellen Verbots der für Umwelt und Mensch schädlichen Praktik, trotz digitalen Appellen und Aufklärungskampagnen und Finanzspritzen für Feldmaschinen – jedes Jahr zieht der Rauch erneut über die Städte.
Biomasse-Technologie: grüne Energie statt brennende Felder
Um das Stoppelverbrennen nachhaltig zu beenden, sind vielmehr innovative Technologien nötig. Das kann nur gelingen, wenn die Bauern nicht wegen ihrer Armut dazu gezwungen sind, Feuer zu legen, keine Strafen fürchten müssen, sondern wirtschaftliche Anreize erhalten. Und es tut sich etwas: Immer mehr Unternehmen suchen nach Wegen, die Pflanzenreste den Landwirten abzukaufen und zu recyclen – zu Bio-Plastik, Papier, Möbeln, Treibstoff oder als Rohstoff für grüne Energieerzeugung. Auch ein indisches Experten-Team von thyssenkrupp hat sich das Ziel gesetzt, die Pflanzenreste in eine wertvolle Ressource für die Energiewende zu verwandeln.
Für diese Mission bringen sie viel Erfahrung mit: Speziell in Indien beschäftigt sich thyssenkrupp bereits seit Jahrzehnten mit der Frage, wie Biomasse-Technologien die lokale Industrie nachhaltiger machen können. „Unser Engagement für saubere Energie auf Basis von Biomasse geht bis auf die Anfänge unserer unternehmerischen Tätigkeit in Indien zurück. Damals, in den späten 1970er Jahren, haben wir damit begonnen, Kessel für Zuckerfabriken herzustellen“, sagt Vivek Bhatia, CEO von thyssenkrupp Industries India.
Bereits seit Jahrzehnten entwickelt thyssenkrupp in Indien innovative Technologien, um Biomasse herzustellen.
„Unsere Kessel haben Zuckerrohr-Bagasse verarbeitet, ein Biobrennstoff, der für die Zuckerfabriken damals noch ein Abfallprodukt war. Wir waren dabei die ersten, die dieses Konzept der Kraft-Wärme-Kopplung für die indische Energiewirtschaft auf die Agenda gebracht haben. In den späten 1980er Jahren fokussierten wir uns dann zunehmend auf umweltfreundliche Lösungen für die Verbrennung heizwertarmer Brennstoffe – mit viel niedrigeren Emissionen im Vergleich zu den Technologien jener Zeit. Außerdem waren wir einer der Spitzenreiter im Bereich hocheffizienter Lösungen für eine ganze Reihe an Industrien, darunter die Zement-, Bergbau- und Mineralverarbeitungsindustrie.“
„Water cooled vibrating grate“: Erntereste verarbeiten – ohne Kesselschäden
Vor allem eine Entwicklung, die thyssenkrupp vom dänischen Partnerunternehmen Babcock & Wilcox Vølund A/S lizensiert hat, könnte das Problem des Stoppelverbrennens nun lösen: „Water cooled vibrating grates“ – wassergekühlte Vibrationsroste. Hierbei wird die Biomasse, in diesem Fall also die Erntestoppel, zunächst geschreddert und im Anschluss gleichmäßig auf einem kontinuierlich vibrierenden Rost verteilt. Ein Wassermantelsystem sorgt für Kühlung. Die entstehende Asche wird gesammelt und unterhalb des Rosts entsorgt. Am Ende des Prozesses entsteht so aus den Pflanzenresten der Felder klimaneutrale Energie.
Die wassergekühlten Vibrationsroste, die in den neuen Biomasse-Boilern von thyssenkrupp eingesetzt werden, meistern selbst Erntereste mit stark korrosiv wirkenden Düngemittelresten.
Im Unterschied zu herkömmlichen Technologien ist der zentrale Biomassekessel speziell auf schwierig zu verarbeitende Erntereste zugeschnitten – und damit auf dem indischen Markt bislang einzigartig. „Durch den auf den Feldern eingesetzten Dünger ist Biomasse aus Weizen und Reis reich an Chlor und Kalium und sehr alkalisch. Weil diese Einlagerungen stark korrosiv sind, schädigen sie die das Innere der Kessel. Letztlich führt das zum funktionalen Ausfall des Systems, da die ordnungsgemäße Wärmeübertragung verhindert wird“, erklärt Vivek Bhatia. „Mit unserer Technologie ist es jetzt möglich, selbst anspruchsvollste Biomasse zu nutzen und sicherzustellen, dass das Kesseldesign langfristig einsatzbereit ist und allen Emissionsnormen gerecht wird. Alles ohne zusätzliche Kosten, etwa für die Brikettierung, da die Biomasse für die Verbrennung direkt eingespeist werden kann.“
Langlebigkeit statt Korrosionsschäden: Erster Kunde war schnell überzeugt
Mit seiner vielversprechenden Technologie hat das Team um Vivek Bhatia den ersten indischen Kunden bereits überzeugen können: Der Lebensmittelhersteller Sukhbir Agro Energy Ltd. (SAEL) wird die wassergekühlten Vibrationsroste in zwei neuen Hochdruck-Boilern verbauen, die insgesamt 80 Tonnen Biomasse pro Stunde verarbeiten.
Als erster Kunde vertraut der indische Lebensmittelspezialist Sukhbir Agro Energy Ltd. auf Biomasse, die mithilfe der „Vibrating Grate“-Technologie produziert wird
Anfangs vertraute SAEL noch auf konventionelle Systeme; durch die Korrosionsschäden im Innern ihrer Kessel und die damit verbundenen Ausfälle landete thyssenkrupps Innovation aber schnell auf dem Tisch des in Delhi ansässigen Unternehmens. Die neuen SAEL-Anlagen werden zukünftig Energie aus Reisstroh erzeugen. Reisstroh von den Feldern Punjabs, Haryanas und Uttar Pradeshs – nicht länger verbrannt, sondern gesammelt, verkauft und nachhaltig eingesetzt.
Nachhaltige Lösung für klimaneutrale Energie, die Smog vermeidet
„Lange Zeit ist das Abbrennen von Ernteabfällen auf den Feldern eine wesentliche Ursache für Luftverschmutzung in Nordindien im Winter gewesen. Jetzt haben wir eine nachhaltige Lösung für das Problem. Wir werden die Abfälle nutzen, um saubere Energie zu erzeugen.“ Für den Vivek Bhatia gewinnen dabei alle Seiten: „Die Landwirte können ihren Umsatz durch den Verkauf ihrer Erntereste erhöhen. Gleichzeitig profitieren Verbraucher von klimaneutraler Energie aus Biomasse. Ein weiterer Nebeneffekt: die Arbeitsplätze, die durch die neue Technologie geschaffen werden.“ In Zukunft soll das Kessel-System auch Kunden in weiteren asiatischen Ländern für eine effizientere und langlebigere Umwandlung von Biomasse in Energie begeistern, etwa in Sri Lanka, Bangladesch und Thailand.
Allen voran hoffen nun aber erst einmal die Bürger Neu-Delhis darauf, dass ihre Atemluft schon bald erheblich weniger Giftstoffe enthält. Neben thyssenkrupps neuen Biomasse-Systemen wird diese Hoffnung auch auf einer weiteren äußerst erfreulichen Entwicklung genährt: Im Mai 2019 vermeldete das „Punjab Pollution Control Board“, dass die Zahl der brennenden Stoppelfelder im Vergleich zum Vorjahr klar abgenommen hat. Die Aufklärungsarbeit der indischen Regierung zeigt so erstmals Wirkung. Verbunden mit thyssenkrupps neuer Biomasse-Technologie klart der Himmel über Delhi so Stück für Stück auf. Und das nicht nur im übertragenden Sinn.