Carbonräder für den Straßeneinsatz: Wenn Werkstoff-Träume wahr werden
12.09.2019
Viele Jahre waren Hightech-Felgen aus dem ultraleichten Werkstoff Carbon ausnahmslos Racing-Profis vorbehalten. Ein Startup bei thyssenkrupp hat den großen Traum privater Motorradfans nun endlich wahr gemacht: Carbonräder mit Straßenzulassung. Es ist die Geschichte eines einzigartigen Erfolgsprodukts, das nun an den Ort seiner ersten Reifeprüfung zurückgekehrt ist – den berüchtigten Snaefell Mountain Course auf der berühmten Isle of Man.
Normalerweise gilt für die ersten Fahrversuche bei der legendären „Isle of Man Tourist Trophy“ eine goldene Regel: Herantasten! Bei bis zu 217 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit kein allzu schlechter Rat. Motorrad-Profi Peter Hickman war das egal: Schon bei seiner „Isle of Man“-Premiere im Juni 2014 raste die unbarmherzige Kulisse der herausforderndsten Straßenrennstrecke der Welt mit durchschnittlich 207 Sachen am Briten vorbei – Weltrekord für einen Newcomer. Sein nüchternes Fazit: „Ich hätte schneller sein können.“
Ein völlig neues Fahrgefühl: HP4 Race setzt auf Carbonräder von thyssenkrupp
Drei Jahre später: 2017 sucht BMW nach einem passenden Fahrer, der ihr neuestes Superbike HP4 Race unter härtesten Bedingungen prüfen soll. Die auf 750 Exemplare limitierte, teuerste Renn-Maschine der Welt besticht vor allem durch eines: Sowohl ihr Rahmen als auch ihre Räder bestehen zu 100 Prozent aus dem Ultraleichtwerkstoff Carbon. Auch sonst gleicht die HP4 Race eher einer Technologie- und Innovationstudie als einem Motorrad. Und weil die Hersteller ihre neuesten Errungenschaften klassischerweise bei Straßenrennen präsentieren, ist Peter Hickman der perfekte Testfahrer. Genau so perfekt wie die berüchtigte Isle of Man als Teststrecke.
215 PS, 999 Kubikzentimeter Hubraum und modernste Carbon-Räder von thyssenkrupp – das ist BMWs Superbike HP4 Race
Nach der ersten Fahrt grinst Hickman so breit, als ob er soeben die Tourist Trophy selbst gewonnen hätte. „Wirklich, wirklich leicht“ sei das Motorrad. „Einfach zu fahren, vor allem im Hochgeschwindigkeitsbereich.“ So einfach, dass man sich fragen müsse, ob man ein Rennen je wieder ohne antreten könne, gesteht er lachend. Es ist der Anfang von drei Erfolgsgeschichten. Die von BMWs HP4 Race. Die von Peter Hickman. Und die des weltweit ersten Carbonrads, das nicht nur für Racing-Profis, sondern genauso für Hobbyfahrer auf öffentlichen Straßen gemacht ist. Sein Entwickler? Die Carbon-Spezialisten von thyssenkrupp.
Racing-Champions vertrauen thyssenkrupps Carbon-Expertise
Dabei war die „HP4 Race“ gar nicht das erste Fahrzeug mit thyssenkrupps Hightech-Carbonrädern: Seit 2017 nutzt auch Porsches Topmodell 911 Turbo S die Kohlefaser-Technologie des Technologieunternehmens, das damit als weltweit erster Serienlieferant für PKW-Carbonräder gilt. Zusammen mit der exklusiven Ausstattung der HP4 Race durfte thyssenkrupp also eine doppelte Weltpremiere feiern.
Dr. Jens Werner ist stolz auf das Highlight-Produkt aus dem Haus seines Teams bei thyssenkrupp. Auf einem Roadtrip von Dresden zur Isle of Man ließ er sich es deshalb nicht nehmen, sich selbst vom einzigartigen Fahrgefühl auf Carbon zu überzeugen
Dr. Jens Werner, CEO von thyssenkrupps Geschäftsbereich „Carbon Components“, blickt mit Stolz auf das ereignisreiche Jahr 2017 zurück: „Im Showbike-Bereich gab es bereits länger Motorräder mit Carbonrädern – wir aber waren die ersten, die sämtliche Qualitäts- und technischen Anforderungen für eine Serienproduktion erfüllt haben.“ Mittlerweile unterstützt sein Expertenteam in Kesselsdorf bei Dresden unter anderem das Penz13 Racing Team und weitere Motorsportler, die auch bei der „Isle of Man Tourist Trophy“ mitfahren. „Seit drei Jahren testen wir hier unsere Räder auf Herz und Nieren – wer unter solch harten Bedingungen besteht, der hat nichts zu befürchten.“
Das Feedback der Profis, erzählt Dr. Werner, sei grandios. „Im Motorradbereich ist der Unterschied im Kurvenverhalten gigantisch.“ Verständlich, denn durch den sogenannten „Kreiseleffekt“ tendieren Motorräder mit klassischen, relativ schweren Alu-Rädern dazu, in schnellen Kurven geradeaus zu fahren – ein enormer Kraftaufwand für den Fahrer.
Carbonräder für jedermann: Revolution im Endverbrauchermarkt
Trotz all des positiven Feedbacks aus dem professionellen Motorsport – ihren größten Erfolg feierten die Kohlenstoff-Spezialisten erst in diesem Jahr. Denn: Seit dem 1. März 2019 haben auch ambitionierte Motorradfahrer aus dem Endkundenbereich die Chance, mit thyssenkrupps Carbonrädern ein völlig neues Fahrgefühl zu erleben.
„Das macht uns nochmal stolzer“, freut sich Dr. Werner. „Und schon jetzt haben wir viel mehr Bestellungen erhalten als erwartet.“ Nicht nur aus diesem Grund arbeitet das im Jahr 2012 als „Start-up im Konzern“ gegründete Team bereits daran, die Hightech-Räder bald schon für weitere Fahrzeugklassen anzubieten.
Mammutprojekt Straßenzulassung: Von Missbrauchslasten und Verformungsvermögen
Räder aus Carbon auf öffentliche Straßen zu bringen – das klingt für Laien erst einmal unproblematisch. Aber was bedeutet es überhaupt, ein Carbonrad für den Endverbrauchermarkt zu entwickeln? „Dazu muss man wissen, dass es bei Straßenzulassungen weniger um alltägliche Fahrsituationen geht, sondern um sogenannte Missbrauchslasten: Wie reagiert das Rad, wenn das Motorrad durch ein großes Schlagloch fährt oder das Fahrwerk durch eine Betonplatte auf der Autobahn beschädigt wird?“, erklärt Dr. Werner. „Im Gegensatz zum Rennsport gibt es im Straßenverkehr viel strengere Vorschriften für solche Missbrauchslasten. Es war also enorme Entwicklungsarbeit nötig, um den Werkstoff Carbon so zu gestalten, dass er sämtliche Anforderungen für den normalen Straßeneinsatz erfüllt.“
Carbon in Serienproduktion: Null-Toleranz-Politik bei Qualitätsunterschieden
In diesem Kontext spielt insbesondere die sogenannte Fertigungstoleranz eine entscheidende Rolle, so Dr. Werner: „Normalerweise werden Carbonteile per Hand in bestimmte Formen gelegt. Jedes Bauteil war deshalb bisher ein Einzelstück. Um aber die Zulassung für den regulären Straßenverkehr zu bekommen, müssen wir eine durchgehend gleiche Qualität gewährleisten – jedes Teil muss also exakt identisch sein. In unserer Fertigung ist genau das jetzt möglich, weil wir mit den gleichen Fasern, den gleichen Lagen, den gleichen Prozessparametern, den gleichen Materialsystemen und den gleichen Anschlusstoleranzen produzieren.“
Um diese einzigartige Fertigungskompetenz zu erreichen, hat das ehemals als fünfköpfiges Startup angetretene Team innerhalb von nur fünf Jahren Großes geschaffen. Und so bietet der Standort Dresden heute mehrere Spezial-Backöfen, eine hochsaubere manuelle Fertigung und computergestützte Endkontrollen per Röntgengerät. Prunkstück des Hightech-Werks ist aber die größte Radialflechtanlage der Welt: Dank des beeindruckenden Systems mit einem Durchmesser von neun Metern kann thyssenkrupp die Felgenbetten nahtlos fertigen. Das erhöht die Festigkeit und Schadenstoleranz der Räder und ermöglicht es uns, die weltweit leichtesten Felgen für Motorräder herzustellen“, sagt Dr. Werner.
Komponentengeschäft der Zukunft: Carbon auf Pole-Position-Kurs
Dr. Werner ist sich sicher, dass sich der Werkstoff vor allem durch sein geringes Gewicht langfristig als neuer Standard im Motorrad-Bereich etabliert: „Im Zweirad-Einsatz beschleunigen Räder ja nicht nur in Fahrzeugrichtung, sondern genauso rotatorisch. Sparen wir in der Fertigung also 100 Gramm Gewicht, sparen wir effektiv doppelt soviel. Darüber hinaus sind die Fahrwerkeigenschaften und die Straßenhaftung wesentlich besser. Und wenn wir auf den möglichen PKW-Einsatz schauen, tragen Carbonräder durch ihr hohes Dämpfungsvermögen dazu bei, den Innenraum eines Autos leiser zu gestalten. „Das ist perspektivisch besonders für die Elektromobilität absolut entscheidend“, weiß der Fachmann.
Technisch auf neuestem Stand: Das Team am thyssenkrupp-Standort Dresden hat es geschafft, Carbonfasern für Motorrad-Räder herzustellen, die in puncto Festigkeit, Schadenstoleranz und Gewicht ihresgleichen suchen.
Dr. Werner sieht den Werkstoff Carbon außerdem als Schrittmacher für viele weitere Innovationen im Komponentenbereich: „Schon jetzt bieten wir OEM-Kunden wie Audi Stabilisatoren und Federn aus Carbon für den Serienverbau an. Weitere Produkte werden folgen – sowohl für OEM- als auch Endkunden. Das geschieht Schritt für Schritt.“ Der entscheidende Vorteil des Standort Dresdens ist dabei, dass thyssenkrupp die Carbon-Fertigungstechnologie flexibel auf andere Produktklassen ausrollen kann – von der Raum- und Luftfahrt über das Automotive-Geschäft bis zum Sportbereich. Und zwar mit einem klaren Preisvorteil gegenüber dem Wettbewerb.
Von Dresden zur „Isle of Man“: Road Trip zurück zu den Anfängen
Die diesjährige Einführung von Carbonrädern für den Endverbraucherbereich war für die Motorrad-Szene ein echter Meilenstein – genauso wie für thyssenkrupp selbst. Um diesem Durchbruch gebührend zu würdigen, ist das Team um Dr. Werner im Juni 2019 noch einmal an jenen Ort zurückgekehrt, an dem die Erfolgsgeschichte ihren Anfang nahm: auf die Isle of Man.
„Wir wollten einfach zeigen, was unsere Carbonräder sowohl auf öffentlichen Straßen als auch im Renneinsatz leisten können. Deshalb sind wir von Dresden aus zu einem Road Trip zur Isle of Man aufgebrochen, den wir in Zusammenarbeit mit dem Portal 1000PS auch filmisch festgehalten haben. Man könnte sagen: Es war die Krönung all unserer Anstrengungen und Tests.“
Fachgespräch unter Racingfans: Auf dem Roadtrip zur Isle of Man machte das Team aus Dresden auch an thyssenkrupps Hauptquartier in Essen Halt. Klar, dass die S1000RR schnell zum „Talk of the Quartier“ wurde.
Interesse geweckt? Zur Website von thyssenkrupp Carbon Components geht es hier!